Weil’s zur Klärung des Begriffs der Medialität bei Beliso-De Jesús beiträgt einige Anmerkungen zum selbstbeweihräuchernden Artikel des Philosophendarstellers und Entertainers Markus Gabriel in der Wochenendausgabe der NZZ vom 18. Juni 2016, denn dank dem Deutschen Halbbildungsbürgertum als einzigem Zielpublikum kann ihm eine gewisse voraussetzungslose Verständlichkeit nicht abgesprochen werden. Gabriel bezeichnet sein Programm als “Neuen Realismus”, welcher sich gegen “die Postmoderne einerseits und das naturalistische Weltbild andererseits” wende. Die “Postmoderne” charakterisiert er diffus als Postulat der “unaufhebbaren Vermitteltheit - Medialität - aller Weltzugänge” und unterstellt, damit “träten an die Stelle von Wahrheiten Parolen und Bekundungen der Solidarität mit der eigenen Gruppe”. Noch diffuser seine “der philosophischen Arbeit am Begriff” entsprungene Vorstellung des “Realen”, welche umfassender als der Naturalismus, aber prinzipiell gleichwertig sei: “Das Universum als Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften ist eine ontologische Provinz unter anderen - was den Wert seiner Erforschung nicht mindert. Wirklich ist vieles. Zwei und zwei ergibt wirklich vier. Deutschland ist wirklich eine Bundesrepublik mit einer sehr wirklichen Kanzlerin. (…) Wirklich sind auch Galaxien und Bosonen, Hände und Albträume.” In der Campus-Beilage der Zeit vor zwei Jahren dehnte er diesen Wirklichkeitsbegriff wissenschaftlich auf Einhörner aus: “Wir denken oft, dass es eine einzige Wirklichkeit gibt. Wir sagen: “In Wirklichkeit gibt es keine Feen, Hexen oder Einhörner.” Wenn wir aber über Einhörner nachdenken oder Geschichten von ihnen erzählen, existieren sie zumindest in unseren Gedanken. Der Neue Realismus fragt: Warum sollte eine Existenz in Gedanken weniger real sein als eine Existenz im physikalisch ausgedehnten Universum? Ich denke: Real ist, was real ist. Also Gedanken, Wünsche, Ideen, Träume … “ - also doch Pippi Langstrumpfs “ich mach mir die Welt, widewide wie sie mir gefällt”? Einen Schlüssel zum Verständnis bietet der grossformatige MRT-Ausdruck in der NZZ mit der Bildlegende: “Im Hirnscan sieht man keine Moral, keine Zahlen, keine Gedichte - und dennoch gibt es Moral, Zahlen und Gedichte.” - nur zu verstehen im Zusammenhang mit der Kritik an den fMRT-basierten “Voodoo-Neurowissenschaften” von Cornelius Borck in einer kürzlich erschienenen Rezension im Discover Magazin: Real ist, was im Hirnscan abgebildet wird, Tatsache ist damit alles, was in hirnbiologischen Prozessen Energie verbraucht. Zitiert wird Borck mit: “There are no ghosts under the sun, not even inside the brain… however, social neuroscience populates the world with a surprisingly large number of entities which until now had been regarded as of ambivalent if not dubious ontological status, because hitherto they had clearly fallen outside the realm of material objects. (…) Social neuroscience reveals social cognition to be something materially real, neurophysiologically realised, regardless of all questions from cultural relativism or social constructivism…” Entgegen seinem Anspruch baut Gabriel seine Argumente auf eine populäre, aber naive Interpretation der ökonomisch sehr erfolgreichen naturwissenschaftlichen funktionellen Magnetresonanztomographie, was der NZZ-Redaktion auch aufgefallen zu sein scheint. Borck bezeichnet diese despektierlich als “Voodoo”, begrifflich streng abzugrenzen vom Haitianischen Vodou bzw. Vaudou, von dem ersterer abgeleitet ist. Demgegenüber bezieht sich Beliso-De Jesús’ “Electric Santería” auf die spezifisch Kubanische Ausprägung diasporischer Subsaharischer Religionen in der westlichen Hemisphäre. Deren Ontologie ist ungleich spezifischer und konkreter, eine (in modernem abrahamitischem Kontext logisch notwendige) Gleichsetzung ihrer “Kopräsenzen” mit “Feen, Hexen oder Einhörnern” (Gabriel beim Zielpublikum “Studentinnen”) wäre als kulturrassistische Aggression zu werten, wenn schon wäre an die “sehr wirkliche Kanzlerin” (Gabriel beim Zielpublikum “arriviertes Bildungsbürgertum”) zu denken. Nicht umsonst lautet die Haitianische Bezeichnung für mächtige, alte Kopräsenzen “lwa” oder “loa”, abgeleitet vom Französischen “loi” für “Gesetz”. Beliso-De Jesús’ Problem mit dem Begriff des “Mediums” bezogen auf geistliche Videos (im Sinne barocker “geistlicher Musik”) hat auch nichts zu tun mit Gabriels rhetorischem Trick: “Man entflieht dem Wirklichen nicht durch die Behauptung, dass es nur mediale, vermittelte Weltzugänge gibt. Denn wenn es mediale Weltzugänge gibt, die uns das Wirkliche verstellen oder nur verzerrt zugänglich machen, dann gibt es diese medialen Weltzugänge ihrerseits - wirklich.” Die anthropologischer Beobachtung zugängliche Erfahrung der Besessenheit durch Videos zeigt genau das Umgekehrte: Das vermeintliche Medium kann mehr sein als ein symbolisches Medium, das auf das a priori unzugängliche Sakrale verweist, es kann gegebenenfalls selbst zu dieser Wirklichkeit werden, was bei Beliso-De Jesús entfernt vergleichbar ist mit der katholischen Transsubstantiation, welche diesen “Weltzugang” aber monopolisiert. In den Worten des “Neuroskeptikers”: “Borck argues that neuroscience has something in common with animism, the religious belief that spirits inhabit various objects. In particular, he says, fMRI studies can be likened to the ‘soul catchers‘ of Native American animism, as like a soul catcher, the fMRI experiment seeks to localize and pin down a mental (some would say spiritual) phenomenon into a physical location.” Ist diese Aporie einmal begriffen, fällt Gabriels “Schwungvoller Realismus” als “humanistische(r) und universalistische(r) Impuls der Aufklärung” in sich zusammen. Zu verlieren ist die Deutsche Behaglichkeit, die sich zeigt in Behauptungen wie “Deutschland ist wirklich eine Bundesrepublik mit einer sehr wirklichen Kanzlerin”, aber “Feen, Hexen oder Einhörner” seien bei Bedarf, etwa zwecks Behaglichkeit der Mädchen, genauso wirklich, worin alles seine Richtigkeit habe. Dann ist plötzlich nicht mehr 1789, das Jahr der französischen Revolution, das Stichjahr der europäischen politischen Aufklärung in Sachen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, sondern 1804, das Jahr der Haitianischen Unabhängigkeit von Frankreich, wo der Code Noir erst 1848 ausser Kraft gesetzt wurde - historische Tatsachen, die das europäische Bildungsbürgertum systematisch vergessen gemacht hat.

Quellen

Gabriel, Markus: Wider die postmoderne Flucht vor den Tatsachen. NZZ vom 18. Juni 2016, S.49 http://www.nzz.ch/feuilleton/fuenf-jahre-neuer-realismus-wider-die-postmoderne-flucht-vor-den-tatsachen-ld.89931

Gabriel, Markus: Real ist, was real ist. Zeit online, 7. November 2014 http://www.zeit.de/campus/2014/06/markus-gabriel-philosophie-neuer-realismus

Neurosceptic: Reflections On Voodoo Neuroscience. Discover, 26. Juni 2016 http://blogs.discovermagazine.com/neuroskeptic/2016/06/16/voodoo-neuroscience