Hatte hier schon zwei mal versucht, afrikanische Polyrhythmik als die Überlagerung zweier Zählweisen - binär und ternär - in demselben Musikstück zu vermitteln 1 2. Das Musikvideo «Butterflies» der Zimbabwerin Selmor Mtukudzi3 brachte mich beim Hören auf eine neue Idee: Der Polyrhythmus funktioniert für mich darin wie ein vexierendes Kippbild. Klassisch das Bild «Meine Frau und meine Schwiegermutter», welches überlagernd sowohl eine junge und eine alte Frau darstellt, die aber nicht wirklich gleichzeitig gesehen werden können:

My Wife and My Mother-in-Law 4

Das Stück von Mtukudzi beginnt mit E-Piano in meiner Wahrnehmung eindeutig ternär, also im 3/4-Takt (wie Wiener Walzer). Doch in den Sekunden 0:15 - 0:25 «kippt» es mit Einsetzen der Bassdrum scheinbar unwillkürlich in einen «straight four-to-the-floor», also im 4/4-Takt (zu teutsch «links-zwo-drei-vier»):

Selmor Mtukudzi - Butterflies

Soweit so tanzbar - aber das ist nicht die ganze Geschichte, denn dieses «kippen» ist alles andere als zwingend (es klappt nämlich kaum mit dem Motherboard-Lautsprecher ohne Bass). Schon beim ersten Hören beschlich mich in der zweiten Hälfte das unangenehme Gefühl, etwas zu vermissen, ich hörte zwar unproblematisch einen binären 4/4, aber in mir bohrte die intensive Erinnerung, dass ich das Stück eigentlich als angenehm ternär empfunden hatte, wo ist dieses Gefühl hin? Wie kann ich mich so täuschen?

Weil sich für mich persönlich die konkrete rhythmische Erinnerung aufdrängte zunächst das Stück «Watch mi body» («Ta beauté est ton esprit …» - «Deine Schönheit liegt in deinem Geiste und Verstand») des Ivorers Meiway: rhythmisch komplex und ternär, zwar mit binären Überlagerungen und Einsprengseln (am didaktischsten bei 2:40), aber es kehrt immer wieder machtvoll in den ternären 6/8-Takt zurück:

Meiway - Watch mi body

Damit im Geiste zurück zu Mtukudzi. Wenn das «kippen» in den 4/4 zu machtvoll ist (wie für mich persönlich beim 2. Hören, im Video wohl für den konkreten Weissen als Allegorie des Weissen im Allgemeinen), hilft es, gleich zu Beginn das Ternäre körperlich aufzunehmen, mit klatschen oder schnalzen, um beim Einsetzen der Bassdrum stur durchzuhalten. Dann plötzlich, oh Wunder der Wahrnehmung, das Ganze kann «zurück kippen»: das Stück, der Tanz, sogar der Text verändert grundlegend seinen Charakter, wird genauso durchgehend ternär wie «Watch mi body”!

Oder im Sinne des Titels eines aktuellen madagassischen Salegy-Stücks von Viavy Chila (kann kein Wort Malagasy) : Das Ganze wird ganz einfach normal, wird zu diesem einen 6/8 & 4/4 Polyrhythmus, der ebenfalls auch als reiner 6/8 bzw. als reiner 4/4 gehört werden kann:

Vaiawy Chila - Normal

Multistabile Wahrnehmung

Das deutsche Wikipedia nennt für das optische Wahrnehmungsphänomen den abstrakten Begriff der «Multistabilen Wahrnehmung»5,nennt aber nur im Artikel zur konkreten optischen Kippfigur6 die musikalischen Äquivalente «Minimal Music» und die Mehrdeutigkeit von Akkorden bei wohltemperierter Stimmung, nicht aber die hier offensichtliche - bzw. offenhörbare - multistabile Wahrnehmung in afrikanischer polyrhythmischer Musik.

Das könnte damit zu tun haben, dass der Hauptartikel von Mosaiken der Antike über die Koryphäen M. C. Escher, Salvador Dali, Ludwig Wittgenstein und Thomas Kuhn («Paradigmenwechsel») die Sache ganz hoch hängt, inklusive der harten wissenschaftlichen Fakten: «Mehrfach wurden Korrelationen mit dem Intelligenzquotienten, mit Persönlichkeitsvariablen, dem Genuss von Stimulantien oder aber gewissen Hirnschädigungen berichtet. Spätere Studien konnten jedoch einige dieser Ergebnisse nicht bestätigen. Konsistent scheint jedoch ein Abfall der Wechselgeschwindigkeit mit zunehmendem Alter zu sein.» Hochintellektuell also - und dann in diesem Zusammenhang das (aktuell von Guio Benaravo):

Guio Benaravo - Ambİla zaho mamo

Den an Bierkästen (und aneinander) orientierten Jungs und Mädels in Madagaskar ist die multistabile polyrhythmische Wahrnehmung, ausgedrückt in Gesang und Tanz, ganz einfach selbstverständliche Pop-Folklore. In Europa wäre das den meisten Leuten (ausser den Liebhaber*innen von hochintellektuellen Akademiker*innen-Jazz) ganz einfach zu kompliziert. Welcher Kontrast zum Musikvideo-Theater von Tence Mena: nicht mal in abgelegensten ländlichen Gebieten (bei einer landesweiten Illetrismus-Quote von einem Drittel) sind die Leute in Madagaskar überfordert. Einfach. Nicht.

Tence Mena - Finoa Vilagny

Qellen