Die «wall of text» von «dieBasis»-Mitglied1 Ingbert Jüdt als Rezension2 zu «Gekränkte Freiheit» von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey3 scheint zunächst vielversprechend, proklamiert Jüdt doch gestelzt: «Der Rezensent bekennt freimütig, sich durch die die Vorgehensweise von Amlinger und Nachtwey in seiner Ehre als studierter Soziologe gekränkt zu fühlen (auch wenn er keinen mit diesem Fach verbundenen Beruf ausübt) und sich unter anderem dadurch zu dieser Rezension veranlasst gesehen zu haben (ein anderer Teil meiner Motivation besteht darin, Menschen in meinem persönlichen Umfeld, die der Querdenker-Bewegung nahestehen, vor solcher Soziologie, wie sie von den Verfassern betrieben wird, in Schutz zu nehmen).»

Dann fährt er habermasianisierend fort: «Ich erhebe jedoch den Geltungsanspruch, dass die Argumentation von Amlinger und Nachtwey unzulänglich und selbstwidersprüchlich ist und ihren Gegenstand in einem Grade unfair behandelt, der an Unaufrichtigkeit grenzt.»

Verschwörungsspiritualität

In einem zweiten Rezensions-Teil zu einer TV-Sendung mit Amlinger/Nachtwey4: schreibt Jüdt: «Das ‹Erweckungserlebnis›, von dem Amlinger spricht (14:48), ist eben keine irrationale sondern eine rationale Reaktion auf eine staatliche Kampagne, die ganz explizit (‹Panik-Papier›) auf die bewusste Inszenierung eines Schocks gebaut war. Und dann zählt sie auf, was alles für eine rationale Reaktion ‹dieses Herrn› spricht, aber hält dann den ‹radikalen Verdacht› und die ‹verallgemeinerte Skepsis› für etwas Religiöses.»

Hier unterstellt Jüdt, dass das «Erweckungserlebnis» wie in der traditionellen empirischen Sozialforschung üblich eine von den Forschenden von aussen an den Beobachtungsgegenstand herangetragene Kategorie sei. Wie auch zu Beginn der TV-Sendung selbst deklariert, haben Amlinger/Nachtwey das eben gerade nicht getan und statt dessen im engen Sinne qualitative Sozialforschung betrieben: Das «Erweckungserlebnis», das «Religiöse» sind nicht externe analytische Kategorien, sondern Kategorien des Beobachtungsgegenstandes selbst, beispielhaft aus dem Kapitel «Verschwörungsspiritualität»:

«Früher sei er selbst [Herr Leimbguber] ein extrem materialistischer Mensch gewesen, er habe eine gute Stelle bei einem Finanzdienstleister gehabt und sich vor allem für Geld interessiert. Er habe hingeschmissen und sei mit seiner damaligen Freundin nach Indien gegangen. Ein inzwischen verstorbener Freund hat ihm das erste spirituelle Buch gegeben. Das tödliche Unglück des damals 29-jährigen Freundes kommentiert er nüchtern mit den Worten: ‹Es war Zeit.› Seit seinem spirituellen Erwachen ist er ein esoterischer Omnivor, er arbeitet daran, ein ‹Heiler› zu werden. Mehrfach erwähnt er, dass andere ihn oft für ‹sehr intelligent› hielten. Dank dieser Fähigkeit sei es ihm möglich, zum wahren Kern der Dinge vorzustossen.» (Amlinger/Nachtwey3:279)

Oder «Herr Zurbriggen»: «Nach seiner Scheidung verlor er seinen Job, weil er sich zunehmend mit Schamanismus beschäftigt und damit die Kolleg:innen nervte, wohl aber auch, weil er Fehler unter den Teppich kehren wollte. Seitdem hat er keine stabile Flugbahn mehr erreicht. Er verlor immer wieder seine Jobs, momentan wohnt er in einer Erwachsenen-WG und macht eine Ausbildung zum ‹Heiler›. Esoterisches Denken ist ein zentraler Bestandteil seiner Biographie. In den neunziger Jahren trug er die orangefarbenen Gewänder der Bhagwan-Jünger und sympathisierte mit der Anthroposophie.» (Amlinger/Nachtwey3:288)

Widersprüche? Schamm drüber

Jüdt leugnet diese qualitative empirischen Methode und beharrt auf seiner habermaszitateunterfütterten reinen Rationalitätsbehauptung. Amlinger/Nachtwey zu diesem Muster: «In unseren Interviews zeichnen sich die Befragten, wie erwähnt, zunächst als rationalistisch argumentierende Autoexpert:innen, die nicht grundsätzlich wissenschaftsfeindlich sind, sondern lediglich eine bestimmte Spielart der modernen Wissenschaft skeptisch betrachten.» (Amlinger/Nachtwey3:272)

«In Bezug auf die Kohärenz und Konsistenz ihrer eigenen Kritik waren unsere Gesprächspartner:innen hingegen auffällig indifferent. Alles hängt mit allem zusammen, im Verborgenen werde die Welt von sinistren Eliten gelenkt. Während sie die Widersprüche in der Realität für einen Riss in der Verschwörungsmatrix halten, verspüren sie kein Verlangen, die Widersprüchlichkeiten in der eigenen Argumentation zu beheben. Die einzelnen Verschwörungstheorien können bisweilen eine innere Kohärenz aufweisen, doch sie werden in geradezu beliebiger, strukturell inkongruenter Weise verwendet. (…) Damit bleiben sie anschlussfähig für alle möglichen – auch für extrem rechte – Weltanschauungen, die parallel existieren, ohne dass es zu inhaltlichen Kontroversen kommt. Einzelne Elemente fungieren als Knotenpunkte, die eine narrative Einheit stiften. Eine Selbstpositionierung auf der Links/rechts-Achse würden viele Teilnehmer:innen wohl verweigern, ihre Identität beziehen sie aus der Ablehnung des ‹Mainstreams›.» (Amlinger/Nachtwey3:273)

Habermas

Habermas nach Jüdt: «Die Rationalität einer Person bemißt sich daran, daß diese sich rational äußert und für ihre Äußerungen in reflexiver Einstellung Rechenschaft ablegen kann. Eine Person äußert sich rational, soweit sie sich performativ an Geltungsansprüchen orientiert; wir sagen, daß sie sich nicht nur rational verhält, sondern selber rational ist, wenn sie für ihre Orientierung an Geltungsansprüchen Rede und Antwort stehen kann. Diese Art von Rationalität nennen wir auch Zurechnungsfähigkeit

Soweit Jüdts Selbstdeklaration. Jüdts tatsächliche Praxis (sein Kommentar vom 18. Februar 2023): «‹Unabsichtlich ehrlich› wirkt tatsächlich das ganze Buch – aber so wenig Selbstdistanz darf man bei Soziologen eigentlich gar nicht finden, schon gar nicht bei solchen, die durch Inanspruchnahme der Rubrik ‹Kritische Theorie› erst recht zur kritischen Distanz verpflichtet sind. Wer ‹gendersensibel erleuchtet› ist, hat sich einer Religion angeschlossen, keiner Wissenschaft.» Hier tut Jüdt exakt das, was er kritisiert: Die Kategorie «Religion» bezogen auf gendersensible Sprache ist eine von aussen an den Gegenstand herangetragene Kategorie, welche die Subjekte selbst niemals verwenden.

Jüdt am selben Tag um 9:49 Uhr: «Man kann bei diesem Buch tatsächlich an beliebiger Stelle aussteigen, sogar schon auf der ersten Seite, weil sich der Eindruck, den man dort vom Buch bekommt, bis zur letzten Seite nur bestätigt. Ich habe mich auch nur darum bis zum Ende durchgekämpft, weil ich diese Art, Soziologie zu betreiben, als persönliche Beleidigung betrachtet habe.»

Am 19. Februar 2023 um 19:49 Uhr hat Jüdt seine Amazon-Rezension reinkopiert: «Die methodische Todsünde des Buches besteht dabei darin, dass sich die Kritik an den ‹regressiven› Bewegungen gänzlich in Psychologisierung und Psychopathologisierung erschöpft. Das ist nur dadurch möglich, weil in der Rezeption Kritischer Theorie durch Amlinger und Nachtwey eine scheunentorgroße Lücke aufklafft: der immense von Jürgen Habermas als einem der bedeutendsten Vertreter der Kritischen Theorie betriebene Begründungsaufwand zur Fundierung einer diskursiven Öffentlichkeit und Demokratie in einer Theorie des kommunikativen Handelns bleibt in ‹Gekränkte Freiheit› vollständig ausgespart. Nur dadurch ist es den Verfassern möglich, die vermeintlich ‹regressive› Gesellschaftskritik in ihren eigenen, diskursiv ernst zu nehmenden Geltungsansprüchen schlichtweg zu ignorieren und sie stattdessen zu psychopathologisieren.»

Die Lüge

Jüdt leugnet nicht, das Buch gelesen zu haben («bis zum Ende durchgekämpft»), wirft aber mit Habermas` 1000-Seiten-Wälzer «Theorie des kommunikativen Handelns» nach den Autor*innen: «Die nun folgenden etwas sperrigen Erläuterungen sind notwendig, um das methodologische Versagen von Amlinger und Nachtwey in seiner Tiefe ermessen und an der Wurzel fassen zu können.»

Wie gezeigt, versucht Jüdt gar nicht erst, Amlinger/Nachtwey «diskursiv ernst zu nehmen» - er beharrt einfach auf: «Ich kann gekränkt sein, aber dennoch Recht haben.» Was er langatmig als «ernst zu nehmenden Geltungsansprüche» deklariert, stellt sich als plattes «Recht haben» heraus. Er «verspürt kein Verlangen, die Widersprüchlichkeiten in der eigenen Argumentation zu beheben» (Amlinger/Nachtwey), also den selbstdeklarierten Anspruch auf habermasianische kommunikative Rationalität auch einzulösen: Die ellenlang ausgewalzte Behauptung alleine genügt. Seine damit effektiv leere Kampfrhetorik ist im Kern autoritäre Praxis.

Jüdt bemängelt den «uneingestandenen Hintergrund eines ‹posthistorischen Bewusstseins› der Verfasser (…), demzufolge die liberalen Gesellschaften des ‹Westens› keine grundsätzlichen Widersprüche mehr in sich bergen, die zu einem dialektischen Umschlag in eine neue Ordnung drängen würden.» Die Aussage «keine grundsätzlichen Widersprüche» ist schlicht gelogen, thematisieren sie doch die «Dialektik der Individualisierung»(Amlinger/Nachtwey3:57) ausführlich: Subjekte der Gegenwart sind dem gesellschaftlichen Anspruch nach Individualisierung ausgesetzt, doch dieselbe Gesellschaft verwehrt ihnen die tatsächliche Einlösung dieses Anspruchs, was notwendig Enttäuschungen produziert.

Die «neue Ordnung», die Jüdt einfordert, bedient jedoch u.A. mit seiner Kampfrhetorik gegen gendersensible Sprache als «Gerechtigkeits-Voodoo» dezidiert rechts-reaktionäre Ressentiments, was durch zustimmende Kommentare (und wohl auch Geld durch Buchverkäufe) belohnt wird: «Gendersensible Konventionen sind reines feministischen Machtgehabe.» («Beweis» am 14. Februar 2023 um 17:17 Uhr)

Der Antifeminismus ist Jüdts leidenschaftlich betriebenes Kerngeschäft5 («jahrelang nebenher daran gearbeitet habe»). Er bedient sich damit der heute allgegenwärtigen rechtsgerichteten Umkehrungsrhetorik, welche linke Rhetorik à la «dialektischem Umschlag in eine neue Ordnung» mit rechtem Inhalt füllt - und damit links-progressive Bestrebungen zu sabotieren versucht. In Jüdts eigenen programmatischen Worten: «Ich kehre damit die feministische These um, dass ‹hierarchische Geschlechterverhältnisse› die Wurzel und der Ursprung von Herrschaftsverhältnissen im Allgemeinen sind und behaupte, dass im Gegenteil in den Geschlechterverhältnissen eine Reserve der kommunikativen Komplementarität angelegt ist, die dafür sorgt, dass sie nur begrenzt als Hierarchie institutionalisiert und genau darum von Herrschaftsverhältnissen nur unvollständig durchdrungen werden können.»5 Seine herbeigesehnte «neue Ordnung» ist tatsächlich die nostalgische Imagination einer alten rechten Ordnung, wo Männer noch wahre Männer sind und immer recht haben («kommunikative Komplementarität»), ikonisch geworden in Donald Trumps Wahlkampfmotto «Make America Great Again» (MAGA).

Verweise

  1. https://ingbert-juedt.net/about 

  2. Ingbert Jüdt: Ein Rezensionsessay zu »Gekränkte Freiheit« von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey
    https://ingbert-juedt.net/verstoertes-posthistoire 

  3. Carolin Amlinger, Oliver Nachtway: Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus. Suhrkamp, Berlin 2022.  2 3 4 5 6

  4. Ingbert Jüdt: Amlinger und Nachtwey bei «Sternstunde Philosophie»
    https://ingbert-juedt.net/amlinger-und-nachtwey-bei-sternstunde-philosophie 

  5. Bücher von Ingbert Jüdt
    https://ingbert-juedt.net/buecher  2