Konkurrenz als Normalverhältnis

Folgendes Gespräch aus dem besinnlichen Neujahrs-Dokfilm «Wo ist Gott?»1 im Schweizer Fernsehen SRF blieb mir im Langzeitgedächtnis hängen (Min. 1:36:00):

Wir Nonnen haben auch das Konkurrenzproblem, wir sind auch damit besetzt. Wir sind die gleichen Menschen wie die anderen auch.

Dann machen wir dieses Fass lieber nicht auf. [Gelächter]

Aber das ist klar, wenn Menschen so eng aufeinander leben und wir in diesem geschlossenen Rahmen sind, dass dann Konkurrenz und Rivalität einen ganz anderen Stellenwert hat. Die Mitschwestern kriegen auch enorm viel mit, man möge sich da nicht täuschen. Auch wenn es nicht alles mit Worten ist.

Eigentlich ist es doch unser Job, damit umgehen zu lernen.

Es gibt ja immer wieder die, die unterdrückt werden, und die alle, die sich immer alles nehmen. Natürlich ist es ein Punkt, da muss ich mich zum Beispiel vergleichen.

Geistliche Lehrer sagen, das Vergleichen in einer Gemeinschaft ist der Tod einer Gemeinschaft.

Das ist doch leben. Wir sind einfach mal so gestrickt.

Konkurrenzdenken ist nochmal was anderes wie vergleichen.

Aber das eine fängt mit dem anderen an. Ich vergleiche, also ich mag nicht, dass die das besser kann als ich.

Ich hab keine Schwierigkeiten, wenn andere was besser können, ich kann halt genug gut.

Da gibt es einen guten Spruch: «Man muss das Licht beim anderen nicht auslöschen, um selber zu leuchten.»

Aus dem Erwerbsarbeitsleben

Nur noch vage erinnerlich und nicht mehr auffindbar ist für mich eine Aussage aus der SRF Dokusoap «Auf und davon»2: Ein Mann schaute beruflich im Auftrag einer Schweizer Firma in einer Zweigstelle in China zum Rechten und sinnierte über die «kulturellen Besonderheiten» Chinas: Es sei in China unangebracht, einen Angestellten vor seinem Vorgesetzten niederzumachen.

Dabei entgeht ihm, dass es eine spezifische Besonderheit der Schweizer Volkskultur ist, Angestellte vor ihren Vorgesetzten niederzumachen, in deren Abwesenheit hinter ihrem Rücken gerne auch regelrecht zu vernichten: «Man muss das Licht beim anderen» eben gerade vorsätzlich «auslöschen», um selbst weiterzukommen. In der Schweiz gilt das biblische 8. Gebot3, das Falschzeugnisverbot, nämlich genau umgekehrt: «Du sollst falsch gegen deinen Nächsten aussagen.» Solche Lügen werden in der Schweiz gesellschaftlich hoch geschätzt und auch finanziell belohnt als «hervorragende Führungsqualitäten» – und für echte Schweizer*innen ist trotz Bibel gänzlich unerklärlich, dass nicht die ganze Welt auch so gestrickt ist.

Wobei auch Schweizer*innen differenzieren: Innerhalb der Kaste, die als verstohlene Selbstzuschreibung nach wie vor adäquat als die «arische Herrenrasse»4 zu begreifen ist, mögen biblische Ethik und Moral sehr wohl eine gewisse Geltung besitzen, für Geanderte jedoch ausdrücklich nicht.

Einmal sass ich diesbezüglich an der Quelle: In einem IT-Personalverleih bekam ich innert kurzer Zeit drei verdatterte Fachspezialisten kurz zu sehen. Allen Drei wurde vom Kunden, dem Basler Chemie-Grosskonzern Roche Diagnostics, juristisch völlig unbegründet fristlos gekündigt5, also musste der IT-Personalverleih sie während der vertraglichen (kurzen) Kündigungsfrist weiterbeschäftigen. Ihre offensichtliche Gemeinsamkeit: Die selbst für afrikanische Verhältnisse tiefschwarze Hautfarbe. Einer kam vermutlich gar nicht aus Afrika, sondern aus Südindien, aber sowas ist zum gegebenen Zwecke buchstäblich scheissegal:

Die wurden offensichtlich von meinem «Arbeitgeber» spezifisch nach Hauptfarbe gecastet zu dem einzigen Zwecke, beim Kundenkonzern einem Herrenmensch zu ermöglichen, wiederholt «hervorragende Führungsqualitäten»zu beweisen, indem er den (wegen der an den Arbeitsvertrag gebundenen Aufenthaltserlaubnis) vulnerablen ausländischen Untermenschen zeigt, wo der Hammer hängt. Der zu dem Geschehen auffällig grinsende Geschäftsführer liess sich sogar den während der Kündigungsfrist vertraglich zu zahlenden Lohn kosten, um sich bei Roche Diagnostics als Lieferant von untermenschlichen «human resources» beliebt zu machen.

Quod licet…

Während obige Nonnengemeinschaft selbst eine segregierte Kaste bildet, ist sie – trotz der für die katholische Kirche bezeichnenden ausgeprägten Binnenhierarchie – innerhalb weniger kastensegregiert. Daher kann eine Nonne in obigem Gespräch äussern:

Ich kann gut zurückgeben mit Worten, das ist so eine Seite, die mag ich eigentlich auch nicht, aber ganz abstellen kann ich sie glaube ich auch wieder nicht. Irgendwo habe ich mich ein Stück weit arrangiert, passe auf, in Situationen wo ich weiss, wenn dich jetzt jemand ungut anspricht, dann sag einfach nichts.

Für niedere Kasten wie die genannten Expat-Wanderarbeiter ist das neutestamentliche «Wenn dich einer auf die linke Backe schlägt, dann halt ihm auch die andere hin (Mt 5,39)» nicht ein ethisch-moralisches Gebot, sondern eine selbstverständlich von ihnen erwartete gesellschaftliche Notwendigkeit. «Zurückgeben mit Worten» dürfen nur Kasten-Ebenbürtige. Im konkreten Fall hätte ein solches «Zurückgeben» die fristlose Kündigung, Ausweisung und im Endeffekt gar die berufliche und gesellschaftliche Vernichtung nachträglich gerechtfertigt. Genau das gab mir der Geschäftsführer sichtlich auf mich persönlich bezogen grinsend zu verstehen, als er mir drohend von den fristlosen Kündigungen erzählte.

Das geanderte Ich

Ebenfalls im Langzeitgedächtnis aus dem besinnlichen Neujahrsfilm blieb mir folgende Passage (Min. 1:46:50):

Ich hab gespürt, dass ich das Zuhause6 von Bruder Klaus7 betrete, dass das seine, fast sein Reich ist. Und ich hatte seltsame Gedanken. Ich bin heruntergegangen und hab gefühlt, ich gehe meinen Bruder besuchen. Bruder Klaus. Und dann habe ich mich gefragt: Hätte Nikolaus mich als seinen Bruder gesehen? Als Jude? Ich komme hierher und sitze auf seinem Bänklein. Ich weiss nicht, was er gedacht hätte. Ich weiss nicht, ob er in seinem Leben je einen Juden gesehen hat, oder gesprochen hat, und was er über uns dachte. Aber ich fühle mich ihm nahe.

Diese Passage vermittelt eine informierte Ahnung von einem Land und einem Volk, einer Kastengesellschaft, die «eine der grausamsten Hexenverfolgungen Europas» exekutierte – wobei ein Film zu dem Thema8 die sehr spezifische Frage im Teaser nicht wirklich beantwortet: «Warum wurden in der Schweiz zehnmal mehr angebliche Hexen und Hexer verbrannt als in Frankreich und hundertmal mehr als in Italien?»

Ist wohl einfach der Volkscharakter: Historisch erwarben sich die Schweizer Reisläufer9 verdientermassen ungefähr den Ruf, den heutzutage aus denselben Gründen etwa Wagner-Söldner, IS und Hamas geniessen.

Es sind alle so nett

Der Schweizer Troubadour Franz Hohler hat einmal ein Lied gemacht: «Es sind alle so nett»10, hier gekürzt aus seiner hochdeutsche Version:

(…) Jetzt wohnen wir wieder bei den Leuten, wo der Nachbar nach dem Nachbarn hascht. Man sieht uns in die Küche, in die Stube, aber etwas hat uns überrascht: Es sind alle so nett. (…)

Wo man hinsieht, nur Kollegen, und gerade die Kollegen sind alle so nett.

Ich war in Gösgen11 zum demonstrieren, weil ich gegen Atomkraft bin. (…) Drauf bitten mich die Kernkraftherren zum Besuch in ihren Tempel hin. Sie führen mich rum, und ich finde, das sei alles ein grosser Mist. Sie finden das allerdings gar nicht, aber was das Erstaunlichste ist: Es sind alle so nett. Wirklich, das sind doch Familienväter wie du und ich, es sind sogar Bergwanderer und Skilangläufer, sie wissen wirklich, was Natur ist – Es sind alle so nett.

Der Rhein ist ermordet worden von unserer Basler Chemie. Die Nacht vom 1. November vergesse ich im Leben nie12. Aber kurz darauf traf ich persönlich ein paar dieser ehrenwerten Bosse von Sandoz. Ich sage euch, es ist wirklich zum wahnsinnig werden: Es sind alle so nett. Grüezi, Herr Hohler, schön, sieht man Sie einmal selber. Haben sogar Geschichten von mir gelesen, singen mit mir zusammen den Refrain.

Letzthin träume ich tatsächlich, ich hoffe, es wird nie wahr: man hat mich zum Tod verurteilt, als eine zu grosse Gefahr. Und das Schlimmste, kurz vor dem Köpfen, ist die Runde, die freundlich nickt. Vom Staatsanwalt, Richter und Henker, keine Feind, ich werde verrückt.

Es sind alle so nett – dürfen wir Ihnen diese Binde um die Augen Legen? Haben Sie noch einen letztem Wunsch? Ach so, Sie sind Nichtraucher. Dann legen Sie jetzt bitte Ihren Kopf auf diesen Pflock da.

Es sind alle so nett, so nett, so unheimlich, so grauenhaft NETT!

Hochdeutsch:

Schweizerdeutsch:

Verweise